FRÉDÉRIC WITTE IN GARAISON

von Michèle Witté

Bericht in französischer Sprache


Friedrich Johann WITTE, mein Großvater, wurde am 8. Januar 1874 in BIELEFELD geboren. Nach dem Tod seiner Eltern, lässt er, der der französischen Sprache mächtig war, sich in Paris nieder, wo er Arbeit als Dolmetscher in einem edlen Pariser Hotel (Le Richemont) in der Nähe der Oper findet. Dort lernt er meine Großmutter, die aus Quimperlé (Südfinistère) stammende Louise Toulliou, kennen. Louises Schwester, Jeanne, lebt in eheähnlichen Verhältnissen in Courbevoie mit einem französischen Offizier, François Mercier, mit dem sie einen Sohn hat, Patrice. Jeanne ermunterte ihre jüngere Schwester dazu, ebenfalls nach Paris zu ziehen, wo die jungen Bretoninnen sicher waren, eine Anstellung als Dienstmädchen zu finden. In der Tat findet diese eine Stelle im Hotel Richemont, wo Frédéric WITTE angestellt ist. Schon waren sie verliebt und Louise wie ihre Schwester, die sich nicht lange mit unnützen Behördengängen aufhalten, lebt im Konkubinat (ich berücksichtige die sprachlichen Gepflogenheiten der damaligen Zeit) mit ihrem Frédéric…

Sie leben in Paris, in Courbevoie, und dann in Colombes

Und natürlich kommen dann die Kinder:

–       ein tot geborenes Kind,

–       Frédéric Jean (genannt Jean), geboren am 19. November 1903 in Paris,

–       Rodolphe, geboren am 27. Juni 1908 in Paris,

–       Simone, geboren am 13. April 1912 in Courbevoie.

Und… Anfang August 1914 wird Frankreich mobilgemacht, und das ist die Kriegserklärung!

Alle „verdächtigen“ Individuen, das heißt, diejenigen, die verdächtigt werden, die Kriegsanstrengungen durch ihre Herkunft oder ihren Lebenswandel behindern zu können, werden unmittelbar in Internierungslager, die man sehr bald „Konzentrationslager“ nannte, gebracht: Angehörige der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Deutsche, Osmanen (Türken) oder fahrendes Volk.

So kommt mein Großvater, Frédéric WITTE, am 7. September 1914 im Lager Garaison in der Gemeinde Monléon-Magnoac in den Hautes-Pyrénées an.

Über sein Leben im Lager habe ich nur über die spärlichen im Internet gefundenen Berichte erfahren, sowie durch ein paar Fotos und Postkarten, die das Lager darstellen und von denen mir Herr VERDIER, ein leidenschaftlicher Sammler aus Aureilhan, freundlicherweise Kopien übermittelt hat: Diese zeugen von der Existenz eines sozialen Lebens im Lager: Theatergruppe, Uhrmacherladen, Milchausgabe, Verkauf von Bauernprodukten.

Keinerlei familiäre Berichte: Meine Großmutter, mein Vater, meine Onkel und Tanten haben darüber nie gesprochen, als ob es sich um ein schändliches Kapitel der Familiengeschichte gehandelt hätte. Da mein Vater jung, im Alter von 51 Jahren, verstorben ist, habe ich erst lange nach seinem Tod erfahren, dass er in diesem Lager geboren wurde.

Es bleiben mir ein paar Dokumente, die ich in den Archiven des Departements Hautes-Pyrénées in Tarbes aus der meinen Großvater betreffenden Akte kopieren konnte, und dank denen es mir möglich war, in meiner Erinnerungsarbeit voranzukommen.

So konnte ich den weiteren Fortgang der Familiengeschichte rekonstruieren:

1915 entschließt meine Großmutter Louise, die seit der unfreiwilligen Abreise ihres Lebensgefährten ohne finanzielle Mittel dastand – da sie gezwungen war, ihre Arbeit aufzugeben, um sich um ihre Kinder zu kümmern –, trotz Hilfe ihrer Schwester, alles auf eine Karte zu setzen: Mit ihren drei Kindern und der finanziellen Unterstützung ihrer Schwester steigt sie in den Zug nach Lannemezan und beantragt, zum Vater ihrer Kinder ins Lager zu dürfen! Sie kommt dort am 7. August 1915 an. In Anbetracht ihrer finanziellen Lage wird ihrem Antrag stattgegeben, gezeichnet vom Präfekten am 10. August.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Leben im Lager bereits organisiert und glich allmählich einer kleinen Gemeinschaft.

Dennoch äußert das älteste der Kinder, der 12-jährige Frédéric mit Beinamen Fritz, bald den Wunsch, fortzugehen: Mit der Zustimmung seiner Eltern ersucht er, bei seiner Tante Jeanne, die damals in Montluçon wohnt und deren Ehemann, der Offizier François Mercier, sowie deren Sohn Patrice an der Front sind, leben zu dürfen. Fritz, dessen Mutter arbeitete, war quasi von seiner Tante aufgezogen worden, die als Tagesmutter für die Kinder ihrer Schwester diente, und zu der er eine besondere Zuneigung hegte – eine gegenseitige Zuneigung, wohlgemerkt. Er schreibt also am 15. Oktober einen sehr rührenden Brief an seinen Cousin Patrice, in dem er diesem seine Hoffnung bekundet, bald zu seiner Tante nach Montluçon fahren zu können und hinzufügt, dass er „als boche in Garaison interniert!“ sei. Sein Cousin, an der Front, erhält diesen Brief erst einen Monat später und schreibt sogleich an seinen Vater, um diesen zu bitten, beim Präfekten zu intervenieren, um das Ansuchen von Fritz, den er, wie er sagt, ein bisschen als seinen Bruder ansieht, zu unterstützen. Infolge der Intervention des Hauptmanns Mercier, der sich in seinem Brief dazu verpflichtet, seinen Neffen „mit dem französischen Empfinden, das er bereits hat“, aufzuziehen, wird die ersehnte Genehmigung am 18. Dezember ausgestellt und der junge Fritz kommt am 21. Dezember 1915 bei seiner Tante in Montluçon an.

Für die Internierten geht das Leben weiter. Dank der Geldsendungen, die meine Großmutter regelmäßig von ihrer Schwester Jeanne erhält, kommt die Familie ziemlich gut zurecht. Sie können im umliegenden Land spazieren gehen, im Umkreis von bis zu einem Kilometer rund um das Lager. Dies muss den Paaren eine kleine Intimsphäre gewährt haben, zumal mein Vater am 7. Juli 1916 in Garaison geboren wurde. Er erhält den Vornamen François Patrice und wird seine ersten Jahre im Lager verleben.

Die Internierten sind Gegenstand vertraulicher Notizen, die dem Präfekten vom Leiter des Lagers übermittelt wurden, etwa dieser Art: „WITTE, sehr korrekt, hat aber etwas von seiner Herkunft behalten – wir glauben ihn nicht von ganzem Herzen auf unserer Seite.“

Währenddessen ist Fritz in Montluçon zu Jean geworden (der Französisierung halber, wahrscheinlich) und ich werde ihn nur unter diesem Namen kennenlernen. Für mich war er immer „Tonton Jean“ (Onkel Jean). Sein Onkel François, der sich seine Rolle als Vormund zu Herzen nahm, schreibt ihm oft von der Front, um ihn unentwegt dazu zu ermutigen, fleißig mit der Lehrerin, die ihn unterrichtet, zu studieren.

Aber der Krieg ist immer noch da mit seinen Bergen von Opfern und im Mai klopft das Unglück an die Tür: Als Offiziersfrau wird Jeanne Mercier benachrichtigt, dass ihr Sohn Patrice schwer verletzt wurde und repatriiert werden müsse. Sie fährt mit dem Zug bis nach Le Mans, um ihn nach Lorient zurückbringen, wo er geboren ist und wo sie lange Zeit gelebt hatte. In Angers verschlimmert sich jedoch sein Zustand, er muss ins dortige Militärkrankenhaus eingeliefert werden, wo er am 15. Mai 1917 stirbt… Bluthusten, präzisiert die Sterbeurkunde.

Der Verlust ihres einzigen Sohnes wirft diese starke Frau vollkommen aus der Bahn und ihr Ehemann erachtet es als sinnvoll, ihren Neffen, den der Tod seines Cousins bereits zutiefst erschüttert hat und Gefahr läuft, durch die Depression seiner Tante zusätzlich belastet zu werden, fernzuhalten. Jean kehrt also zu seinen Eltern und Geschwistern nach Garaison zurück. Seine Eltern beschließen endlich, ihre Partnerschaft zu legalisieren und heiraten am 17. September im Rathaus Monléon-Magnoac.

Am 22. September 1917 beantragt die Familie ihre Repatriierung im Rahmen von Abkommen bezüglich des Austausches von Gefangenen. Die Abreise der gesamten Familie ist für November geplant, als diese am 6. November folgendes Telegramm aus Lyon Perrache erreicht: „Bezüglich Ihres Telegramms, das die bevorstehende Durchreise von 5 Personen nach Genf ankündigt, informiere ich, dass die Schweizer Grenze seit 1. des Monats geschlossen ist“.

Die Familie wird also bis zum Ende des Krieges in Garaison bleiben!

4 lange Jahre für meinen Großvater, der, wieder in Freiheit, nur ein Verlangen hat: nach Deutschland zurückzukehren, nachdem ihn Frankreich so schäbig behandelt hatte!

Vor der Übersiedelung nach Deutschland machen sie Halt bei den Merciers in Montluçon, wo der Familienrat tagt. Louise, mehr Frau als Mutter, möchte ihre drei ältesten Kinder (Jean, Rodolphe und Simone) ihrer Schwester anvertrauen, die in ihrer Trauer sehr mitgenommen ist, sehr mütterlich und sehr an ihren Neffen hängt. Die Schwester verlangt nichts weniger als ihre Kinder zu lieben wie ihre eigenen (was sie tun wird) und ihnen eine gute Erziehung zukommen zu lassen.

Die Sache ist also abgemacht und das Paar zieht mit dem kleinen François, meinem Vater, nach Deutschland.

Die Fortsetzung ist schwerer nachzuvollziehen. Sie werden versuchen, sich ihrer Familie anzunähern, aber scheinbar ohne großen Erfolg… Frédéric sollte der Paria bleiben, der, der aus Deutschland geflüchtet und noch dazu mit einer Französin verheiratet ist! Ein fünftes Kind, Richard, wird 1920 in Essen geboren. Später erwerben sie ein kleines Café mit Tabakladen am Bahnhof Bad Godesberg in der Nähe von Bonn. Simone, die bei ihrer Tante und ihrem Onkel in Lorient lebt, verbringt manchmal einige Wochen bei ihren Eltern in Deutschland.

Im Jahr 1939 lebt wiederum der 14-jährige François bei seiner Tante in Lorient… Und die Familie Witté spielt nun mit dem Gedanken, nach Frankreich zurückzukehren. 1931 besuchen sie die Pariser Kolonialausstellung in Vincennes. Vermissen sie Paris? Ist es der Aufstieg des Nazismus?

1934 kehren sie nach Paris zurück.

Während dieser Zeit gehen die älteren Kinder ihren Weg: Dem Beispiel ihres Onkels Mercier folgend, engagieren sie sich in der Armee, bereits im Alter von 18 Jahren. Und damit sie in der französischen Armee aufsteigen können, muss ihr Vater Franzose sein. Frédéric Witté beantragt also die französische Staatsbürgerschaft, die er am 1. September 1937 erhält. Zwei seiner Kinder werden erfolgreich Karriere in der französischen Armee machen: Jean bringt es zum Oberstleutnant und Richard zum Hauptmann. Eine schöne Revanche für den ehemaligen Internierten von Garaison – eine posthume allerdings, denn er stirbt am 4. Februar 1940 in Paris.


Zu meinem Vater

Papa bewahrte immer ein ehrendes Andenken an seine deutsche Kindheit und setzte sich in den 65er Jahren als Gemeinderat in Quimperlé wesentlich für die Städtepartnerschaft zwischen Quimperlé und der kleinen deutschen Stadt Geilenkirchen ein. Er war glücklich, die deutsche Sprache ein Stück weit wiederzufinden. 1966 war ich mit deutschen Pfadfinderinnen aus Geilenkirchen auf Pfadfinderlager und danach hat eine von ihnen eine Woche bei uns zuhause verbracht. Ich habe noch ein Foto von Papa, glücklich, das Austauschkind liebevoll am Hals zu umarmen, wie er es oft mit meiner Schwester und mir machte, um uns seine Zuneigung zu zeigen. Ich erinnere mich an den Moment, als ich in die vierte Klasse kam und es die zweite Fremdsprache zu wählen galt: Er war enttäuscht, dass ich Altgriechisch statt Deutsch wählte, respektierte aber meine Wahl, ohne zu versuchen, mich zu beeinflussen.

Der Vollständigkeit halber muss ich hinzufügen, dass Papa 1966 damit begonnen hat, mit Mama eine Reise nach Deutschland an die Orte seiner Jugend zu planen, die Reise war für den Sommer 1967 vorgesehen. Anfang 1967 fühlte er sich jedoch zunehmend erschöpft und musste das Vorhaben aufgeben: Zu dieser Zeit steckte die Dialyse noch in den Kinderschuhen und sein Gesundheitszustand verschlechterte sich sehr schnell. Er starb im Oktober 1967, ohne sein Vorhaben in die Tat umgesetzt zu haben.

Sie müssen wissen, dass ich von uns vier Kindern eines der zwei Überlebenden bin. Meine älteste Schwester verstarb im Alter von 33 Jahren und vor 4 Jahren haben wir unseren jüngsten Bruder verloren. Mein anderer Bruder (Patrice) ist an meinen Arbeiten zum Familiengedächtnis sehr interessiert, ebenso wie mein Cousin Jean, der Sohn von Richard, dem Jüngsten der Wittés, der auf der Suche nach seinen deutschen Wurzeln nach Deutschland zurückgekehrt war. Damals war das Internet noch nicht so weit entwickelt und er hat seine Familie nicht wiedergefunden…

Ich danke Ihnen herzlich, mich um diese Zeilen gebeten zu haben, sie haben mich dazu angetrieben, nicht mehr zu prokrastinieren und endlich meinen Bericht niederzuschreiben, nach dem die junge Generation (Söhne, Neffen, Cousins) seit mehreren Jahren fragt.

Ich lebe jetzt in Le Pouldu, das zwischen 1920 und 1940 die Zuflucht der Kinder meines Großvaters Witté war, dank ihrer Tante Jeanne, die dort jeden Sommer eine Villa mietete, um ihren Neffen und Nichten schöne Sommerferien bieten zu können. Dieser Ort war zweifellos eine Art Heimatstätte für sie, zumal ihn später alle zu ihrem Heimathafen gemacht haben.

Aber ich bin unversiegbar, wenn ich anfange, von meiner Familie zu erzählen.

 

Michèle Witté (witte.michele@gmail.com), Dezember 2017

Übersetzt von Marie-Christin Bugelnig

Bericht in französischer Sprache