ERINNERUNGEN

von Bernt Bartels

Bericht in französischer Sprache


Mein Vater, Hans Boike Bartels, ist 1886 als Jüngster von 6 Brüdern und 1 Schwester in Oldenburg auf einem Bauernhof geboren. Die Familie war seit 400 Jahren dort ansässig, auf dem Friedhof der evangelischen Kirchengemeinde St. Anna in Großenmeer stehen heute noch die Grabdenkmäler (Stelen) der Vorfahren. Keiner der Söhne wollte den Hof übernehmen.

Mit 17 Jahren wurde mein Vater der Schule verwiesen, weil er der „Camera Obscura“ angehörte (das war eine Schülerverbindung, die in dem Gymnasium nicht geduldet wurde). Er ging nach London, wo sein Bruder Karl lebte, und begann dort eine Lehre bei der Deutschen Bank. Er begegnete Léona Jonchery, die er heiratete. Mit ihr zog er nach Paris und arbeitete im Bankgeschäft des Herrn Briel, der in zweiter Ehe mit Léonas Mutter lebte. Am 26. April 1910 wurde Maurice geboren. Es gibt noch Photos von meiner Großmutter Bartels und dem kleinen Maurice vor dem Schloß Versailles.

Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs wurde mein Vater in Garaison interniert.  Dort hat mein Sohn Georg die Spuren seines Großvaters gefunden, den er persönlich nie kennengelernt hat. Mein Vater hat mir erzählt, daß er 54 Monate in Garaison gelebt hat. Das stimmt ungefähr mit der Dauer des 1. Weltkriegs überein.

Der Krieg zerstörte auch seine Familie. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden.

Warum Maurice ebenfalls nach Garaison kam, weiß ich nicht. Nach den Unterlagen im Archiv von Tarbes, die mein Sohn Hans Georg eingesehen hat, kam er am 17. Juli 1917 in Garaison an und hat das Lager zusammen mit seinem (und meinem) Vater am 15. August 1918 verlassen.

Warum ein Kind im Alter von 7 Jahren in einer Männergesellschaft leben mußte, habe ich nie verstanden.

Die Eheleute Briel haben meinen Vater in der ganzen Zeit unterstützt, wahrscheinlich auch finanziell. Die Verbindung zu den Eltern Briel und auch zu den Schwägerinnen Adrienne und Flore hat ein ganzes Leben lang gehalten. Zu meinem zweiten Vornamen (Adrien) hat Adrienne Pate gestanden. Adrienne ist sehr früh an Tuberkulose verstorben, Léona muß bald nach dem 1. Weltkrieg bei einem Unfall ums Leben gekommen sein.

Die deutschen Internierten konnten sich in ihrem Lager frei bewegen. Wer handwerklich geschickt war, konnte sich auch etwas hinzuverdienen. Aus dieser Zeit hat mein Vater mehrere kleine Abbildungen aus dem Lagerleben mitgebracht. Das waren kleine Holzscheiben, handtellergross, die Ansichtseite glatt geschliffen und mit Intarsien versehen, die wichtige Persönlichkeiten abbildeten. Ich denke da besonders an den Wachtposten in roter Hose, das Gewehr in der Hand mit aufgestecktem Bajonett, Inschrift: „L’État c’est moi“. Von dieser Art waren mehrere Medaillons in meinem Kinderzimmer aufgehängt. Bei einem Umzug wurden diese Andenken weggepackt und heute weiß ich nicht, wo ich sie wieder finden kann.

Albert Schweizer gehörte als Elsässer ebenfalls zu den Gefangenen. Er behandelte meinen Vater, der an einer schweren Gelbsucht erkrankte, mit den Mitteln, die erreichbar waren, und das war Cognac! Davon hat mein Vater oft erzählt – zur Heiterkeit seiner Freunde. Mit einigen Leidensgefährten blieb die Verbindung auch nach dem Krieg bestehen. Das waren Franz Meier, Johnny Büchs, Peter Weber, Hinrich Geerken und Jürgen Toedter.

Bei seiner eigenen Familie in Oldenburg fanden mein Vater und Maurice eine wenig freundliche Aufnahme. Die Brüder müssen ihn beschimpft haben „Du mit Deinem Franzosen-Balg“. In diese Zeit fiel auch der Tod seiner Mutter. Bei der Beerdigung meines Vaters im Jahre 1955 erzählte Onkel Gustav, mein Vater habe am Grab seiner Mutter hemmungslos geweint. Das habe ich nie vergessen können. So habe ich meinen Vater nie erlebt. Er war immer tapfer, seine Freunde bezeichneten ihn als „Stehauf-Männchen“.

Aus Garaison hatte mein Vater eine Tuberkulose mitgebracht. Er suchte Heilung in Leysin oberhalb des Genfer Sees. Dort lernte er meine Mutter kennen, die ihren ebenfalls an Tuberkulose erkrankten Bruder pflegte.

Meine Mutter war Vollwaise. Finanzieller Rückhalt war ihr Erbanteil an einer alteingesessenen Kölner Firma, einer Weinbrennerei und Likörfabrik. Ihr Onkel Franz führte diese Firma und verwehrte ihr die Mitarbeit, weil sich das für Frauen nicht schicke. Auch sie war in Not.

Zurück in Köln – so erzählte meine Mutter – stand Herr Bartels eines Tages in der Türe. Voller Erstaunen fragte sie: „Herr Bartels, was machen Sie denn hier?“ Mein Vater antwortete: „Ich arbeite jetzt bei der Deutschen Bank in Köln.“

Die Gefühle meiner Mutter waren vermutlich zwiespältig, lebte sie doch in der engstirnigen und streng katholischen Stadt Köln. Ein geschiedener Mann, evangelisch und mit einem Kind? Tante Hermine, eine gebürtige Holländerin sagte: „Du mußt Dich entscheiden zwischen Deiner Familie und Herrn Bartels“. Meine Mutter antwortete: „Ich habe mich entschieden!“ stand auf, verließ das Zimmer, schlug die Tür zu (und hörte noch, wie die Delfter Teller von der Wand fielen und auf dem Boden zerschepperten).

Was aber wurde aus Maurice? Meine Mutter war 13 Jahre älter als er. Sicherlich hat sie Maurice eine gute Mutter sein wollen. In seinen Briefen redete er sie als „Mutti“ an. Letztendlich aber ging er nach Frankreich zurück und wuchs bei seinen Großeltern auf.

Briels und meine Eltern besuchten sich gegenseitig und blieben ständig in Verbindung. Ich war stolz, wenn Maurice nach Köln kam und ich an seiner Seite gehen durfte. Er war immerhin 23 Jahre älter als ich.

Leider nahm Maurice eine Entwicklung, die seine Großeltern mit Sorge erfüllte. Um ihm eine feste Bleibe zu sichern, übertrugen sie ihm das Eigentum an dem ehemaligen Kutscherhaus in Herblay, 70 Boulevard Joffre.

Im 2. Weltkreg war Maurice Soldat in der französischen Armée. Er geriet in deutsche Gefangenschaft. Sein nächstes Lebenszeichen kam aus Saigon. Ein Foto zeigt ihn beim Spaziergang in Begleitung von zwei jungen Frauen. Hatte er sich verlobt? Er war dort – unter anderem – Angestellter der Fluglinie Air France.

Nach der Schlacht von Diên Phú 1954 kehrte er ausgemergelt und heruntergekommen nach Europa zurück. Die Großmutter, Madame Briel geb. Jonchéry, lebte nicht mehr. Mein Vater ließ ihn nach Köln kommen, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Er brauchte neue Kleidung, ein neues Gebiss, eine neue Beschäftigung. Meine neugierige Frage nach den beiden jungen Damen fand auch eine Antwort: Sie gehörten zu seinen Angestellten.

Maurice fuhr anschließend wieder nach Paris zurück. Wir hörten nur noch selten von ihm. Er schrieb „j’ai énormément à faire“, aber was er trieb, verriet er nicht.

Im Juli 1955 erkrankte mein Vater an einer schweren Bronchitis. Von Flore, der Schwägerin meines Vaters aus erster Ehe, kam ein Brief mit einem Zeitungsausschnitt, wonach das Haus 70 Boulevard Joffre versteigert werden sollte. Umgehend schrieb mein Vater an Maurice, er möge sich doch melden: vielleicht könne er das Haus für Maurice ersteigern. Maurice gab keine Antwort. Wenige Tage später verstarb mein Vater. Am 7. August 1955 schrieb Maurice, an dem Begräbnis habe er nicht teilnehmen können, weil seine Geschäfte momentan sehr schwierig seien und ihn daran hinterten, sich zu entfernen.

Maurice war nun auch Erbe meines Vaters. Meine Eltern hatten durch die Fliegerangriffe im Krieg alles verloren, nur das Grundstück war noch da, das meinem Vater gehörte. Um Maurice den Erbanteil auszuzahlen, hätte das Grundstück verkauft werden müssen. Maurice erklärte aber, dass er darauf keinen Anspruch erhebe. Lediglich die Briefmarkensammlung meines Vaters wollte er mitnehmen. Jetzt erst, mit dem Schreiben dieser Zeilen, ist mir klar geworden, wie großzügig er sich gegenüber meiner Mutter und mir verhalten hat.

Von Maurice haben wir nie wieder etwas gehört.

In den 70er Jahren habe ich versucht, mit Hilfe französischer Freunde seine Spur zu verfolgen. Ich wußte, dass er im 17. Arrondissement geboren wurde. Dort erfuhren wir die Anschrift des Krankenhauses, in dem er am 10. August 1972 verstarb (Hôpital Léopold Bellan). Weiter führte unser Weg zu seiner Arbeitsstelle, einer Versicherung. Die Personalbeauftragte war erfreut, daß sie mir die noch vorhandenen Unterlagen aushändigen konnte. Schließlich suchten wir noch die Wohnadresse meines Bruders auf, in Hoffnung, etwas aus seinen letzten Lebensjahren zu erfahren. Der Wohnungsnachbar, ein Arbeitskollege meines Bruders, war ganz erstaunt zu erfahren, dass Maurice deutsche Verwandte habe. Maurice habe immer von Verwandten in Dänemark gesprochen, zu denen es aber keinen Kontakt gebe.

Maurice wurde am 16. August 1972 in einem namenlosen Grab auf dem Friedhof Thiais im Pariser Süden beerdigt (Liegedauer 5 Jahre).

In Zeiten von Google kann man auch danach suchen, was aus dem Kutscherhaus 70 Boulevard Joffre in Herblay wurde. Und siehe da: das Haus gibt es noch.

 

Bernt Bartels, Köln, 10.5.2018