DIE AUFZEICHNUNGEN VON HÉLÈNE FÜRNKRANZ

von ihrer Enkelin, Linde Rachel


Ich habe meine Großmutter, Hélène Fürnkranz, nie kennengelernt. Sie ist am 16. November 1936, ungefähr sechs Jahre nach meiner Geburt, gestorben. Bei uns zu Hause gab es ein paar Spuren von ihr, insbesondere Malereien, eine Märchensammlung, die sie verfasst hatte, ein großes Klavier. Im Laufe der Jahre sind diese Spuren verblichen, zum Teil durch Verschulden meiner Mutter, Eve, die im Erwachsenenalter an etlichen depressiven Anfällen litt; sie hat mir wenig von Hélène erzählt, aber der Name Notre-Dame de Garaison bleibt tief in mein Kindheitsgedächtnis eingeritzt, denn meine Mutter hat oft von dieser Periode ihres Lebens, die sie als eine der positivsten und markantesten erlebt hat, erzählt… Ist es ein Zufall, der mich eines Tages im Januar 2014 dazu brachte, den Namen Hélène Fürnkranz in eine Suchmaschine einzugeben? Ich habe so ihr Journal entdeckt, bei einem deutschen Antiquar, der sein Inventar online gestellt hatte[1]. Recherchen in unterschiedlichen Archivdiensten in Frankreich, Österreich und der Schweiz haben dabei geholfen, eine Skizze ihrer Erfahrungen und jener ihrer Familie anzufertigen.

Trotz allem wissen wir nur wenige Dinge über Hélène: Sie ist in Wien geboren, in Paris und Nordirland aufgewachsen, zusammen mit ihrer Schwester, die Karriere als Opernsängerin machte. Alle beide scheinen eine solide künstlerische Ausbildung genossen zu haben – Musik, Malerei, Schrift. Hélènes Vater stellt sich als Privatier vor: Sein Vater war Polizeichef und Gemeinderat in Wien; seine Mutter die Tochter eines Waffenherstellers, der die österreichisch-ungarische Armee belieferte. Im Alter von 29 Jahren bekommt Hélène einen Sohn, Wilson, der in Triest geboren wird; sie heiratet zwei Jahre später in Südtirol ihren deutschen Cousin, Wilhelm Fürnkranz. Wilhelm ist Offizier in der österreichisch-ungarischen Armee und Hélène lebt bei ihrem Vater. Man weiß nicht, ob Wilson, der einen irländischen Vornamen trägt, das Kind von Wilhelm ist oder nicht. Als Hélène und Wilhelm beschließen zu heiraten, besteht die Familie scheinbar darauf, dass Letzterer die Armee verlässt und ein Ingenieurdiplom erwirbt. Das Paar lässt sich vor Mai 1907 in Bois-Colombes nieder, dem Jahr, in dem meine Mutter in dieser Stadt geboren wurde. Wilhelm ist Ingenieur bei Westinghouse, einer internationalen Gesellschaft mit Sitz in einem Pariser Vorort. Da er mit der Planung und Organisation der Fabriken der Gruppe betraut ist, reist Wilhelm viel in Europa und sogar in den Vereinigten Staaten. Meiner Mutter zufolge hingen die Kinder sehr an ihrem Großvater: Es ist übrigens er, der der Geburt meiner Mutter 1907 in Bois-Colombes beiwohnt, während Wilhelm wieder einmal auf Dienstreise ist. Aufgrund der häufigen Abwesenheit ihres Mannes, versorgt Hélène ihre siebenköpfige Familie mithilfe eines Dienstmädchens aus Südtirol und einer bretonischen Kinderfrau, besonders als die Mädchen noch klein sind.

Hélène stammt aus einer bürgerlichen, kosmopolitischen und dreisprachigen Familie, die sich in Europa frei von einem Land zum anderen bewegt. Ihr Sohn Wilson wird in Triest geboren, dann jedes der drei Mädchen in einem anderen Land: Österreich, Frankreich, Schweiz. Eine österreichische Familie, deren drei Erwachsene, Vater, Mutter und Großvater mütterlicherseits, in Wien geboren sind. Hélènes Vater heiratete 1867 in Paris die Tochter eines irischen Pastors; nach dem Tod seiner Frau ließ er sich mit seiner ältesten Tochter in Südtirol nieder, einer Bergregion, die die Familie liebt. Die Familie lebt hauptsächlich in Frankreich; Hélène und ihre Schwester werden in Frankreich und Irland aufgezogen; sie betrachten Österreich, Frankreich und Irland gleichermaßen als ihre Heimat. Dennoch wird Hélène nie nach Wien, in ihre Geburtsstadt, zurückkehren und nach ihrer Ankunft in der Schweiz 1915 lässt sie sich endgültig in der Deutschschweiz nieder.

Hélènes Aufzeichnungen beginnen am 1. August 1914. Sie liefern eine detaillierte Beschreibung der Erfahrungen einer österreichisch-irischen Familie, die zur Zeit der Mobilmachung gut in die französische Nachbarschaft in Bois-Colombes integriert ist. Der Bericht gibt sehr wenig über den historischen Kontext, die politische Atmosphäre oder die Familie preis. Der Zugang ist eher jener eines Reisejournals als eines Tagebuchs. Hélène ist 46 Jahre alt, als sie diesen Text schreibt, sie hat vier Kinder, einen Sohn und drei Töchter.

Was wir über Hélène wissen, entspricht nicht dem Profil einer den Konventionen ihrer Zeit unterworfenen Frau. Daran gewöhnt, mit komplizierten Situationen in ihrer Familie umzugehen und mit kulturellen und sozialen Aktivitäten beschäftigt, scheint sie von den Geschehnissen nicht erschüttert zu sein; sie fand Zeit und Nerven, um ein Journal zu führen, das von einer schwierigen Reise und neun Monaten Internierung berichtet. Nach Hélène sind ihre Aufzeichnungen nicht mehr als ein persönliches Zeugnis, ohne politischen oder sonstigen Hintergedanken. Es ist jedoch klar, dass diese „persönliche“ Geschichte sich in die größere einschreibt, die die Zivilisten, die von einem Tag auf den anderen zu Staatsfeinden geworden sind, erleben. Die Heftigkeit dieses Übergangs wird durch einen symbolischen Akt markiert: Man tötet die geliebten Tauben, um die Familie unterwegs zu ernähren…

Hélène und ihre drei Töchter verlassen das Lager Garaison am 9. Juni 1915 in Richtung Schweiz; ihr Mann und ihr Sohn bleiben bis Januar 1917. Ungefähr zwei Monate nach der Niederlassung Hélènes in Aarau schreibt sie ihren Bericht ausgehend von handgeschriebenen Aufzeichnungen; er wird veröffentlicht, zuerst in Form einer Serie in einer Zeitung des Kantons, dem Aargauer Tagblatt. Hélène zögerte also nicht, ihren Text[2] zu veröffentlichen, trotz der abertausend Aufgaben, die sie in Beschlag nahmen. In der Tat muss sie in der Schweiz das Überleben ihrer Familie sichern, ganz ohne Mittel: Hélène gibt Malkurse; sie begleitet Stummfilme im Kino am Klavier. Sie muss sich auch um den in Bois-Colombes verbliebenen Besitz kümmern. Gleichzeitig ermöglicht ihr das Journal vielleicht, ihren Ansuchen bei den Behörden der Schweiz, Frankreichs, Österreichs und des Roten Kreuzes Nachdruck zu verleihen… Denn nach der Freilassung Hélènes ist der Briefverkehr des Paares während mindestens drei Monaten unterbrochen. Sie erledigt die Behördengänge in Bern, in Zürich, wegen verschiedener Formalitäten; sie wird auf Anordnung aus Berlin ins deutsche Konsulat in Basel bestellt. Die Tatsache, dass ihr Mann und ihr Sohn sich noch in Garaison befinden, hat vielleicht zu einer gewissen Selbstzensur ihrer Texte geführt. Denn Wilhelm und Wilson erleiden Strafen, die zunehmend häufiger und schwerwiegender werden; am 15. November 1916 zeichnet der Leiter des Lagers in einem Bericht ein recht negatives Bild, vor allem von Wilhelm. Dennoch empfiehlt er die Abreise der beiden Männer in die Schweiz…

In ihrem Bericht äußert Hélène kaum Urteile; sie nimmt die Rolle der Beobachterin ein. Es ist vielleicht diese Distanz, die dem Text historischen Wert verleiht: Hélène ist vielmehr Vermittlerin denn Subjekt oder Opfer der Geschichte… Das Journal von Hélène Fürnkranz trägt zum Erhalt des Gedächtnisses bei, umso mehr als nur wenige Spuren von der persönlichen Korrespondenz bleiben, die zu jener Zeit so bedeutend war; ein paar Fragmente davon existieren in den Akten, die im Archiv des Departements Hautes-Pyrénées aufbewahrt sind, dank der Zensur des Lagers Garaison… Dennoch bleiben Fragen offen: Warum hat man zwei Männer in wehrpflichtigem Alter in die Schweiz ziehen lassen? Warum die Anordnung aus Berlin, meine Großmutter, eine Österreicherin, ins deutsche Konsulat in Basel zu bestellen? Was ist aus dem Hab und Gut der Familie geworden?

Linde Rachel, Juni 2017

Übersetzt von Marie-Christin Bugelnig [3]

 

[1] Helene Fürnkranz, In französischer Kriegsgefangenschaft: Momentaufnahmen aus dem Leben einer Austro-Boche Familie in Paris, Flers (Normandie), Garaison (Pyrenäen), Aarau, 1915.

[2] 1917 veröffentlicht Hélène Fürnkranz einen weiteren Text über ihre Erlebnisse in Garaison, ein Operettenlibretto, in dem unter anderem die Schwächen des Lagerkommandanten verspottet werden.

[3]  Der französische Originaltext erscheint in: Leroy-Castillo Pascale, Guinle-Lorinet Sylvaine (Hg.), Être prisonnier civil au camp de Garaison (Hautes-Pyrénées), 1914-1919. Carnet de photographies, Pau, Cairn, Mai 2018.